5.1. Einteilung von epileptischen Anfällen
Es gibt sehr viele Anfallsformen und viele Einteilungsmöglichkeiten.
Ich lehne mich an den Vorschlag der Internationalen Liga gegen Epilepsie www.ilae.org an und vereinfache etwas.
Es gibt aber auch viele Anfälle, die man nicht „ordentlich“ einteilen kann.
Es gibt zwei große Gruppen von Anfällen:
1. Generalisierte Anfälle
(generalisiert = verallgemeinert) :
Die gesamte Hirnrinde und z.T. tiefere Schichten haben eine erhöhte elektrische Aktivität.
2. Partielle oder fokale Anfälle (partiell = teilweise, fokal = von einem Herd ausgehend):

Die elektrische Aktivität ist in einem mehr oder weniger großen Abschnitt des Gehirns – meist Hirnrinde – erhöht. Von diesen Gehirnabschnitten kann es aber zu jeder Zeit zu einer sekundären Generalisierung kommen. Muss aber nicht. Das bedeutet, dass von einem Herd aus sich – so wie die Wellen um einen in den See geworfenen Stein – die Entladung von Nervenverbänden auf der Hirnrinde ausbreiten kann, bis zur gesamten Hirnrinde und tieferen Schichten. So kann aus einem fokalen Anfall ein generalisierter Anfall entstehen.
In diesen beiden Gruppen gibt es jeweils wieder einige Untergruppen von Anfällen. Ich nenne sie hier nur namentlich und beschreibe sie dann unter 5.2. .
Zu den generalisierten Anfällen gehören

1- Grand mal-Anfall (französisch = großes Übel). Groß deshalb, weil die Anfälle sehr dramatisch, großartig verlaufen.
2- Petit mal-Anfälle (französich = kleines Übel). Klein deshalb, weil die Anfälle meist unspektakulär und relativ kurz verlaufen.
Zu den fokalen (partiellen) Anfällen gehören
1- Einfache fokale Anfälle und
2- Komplex fokale Anfälle.
Hier die ausführlichere Klassifikation:

5.2. Beschreibung einiger Anfälle
Damit Sie den Überblick bis zum Schluss behalten, schauen Sie immer wieder auf die obige Abbildung, auf die ausführliche Klassifikation der epileptischen Anfälle.
5.2.1. Generalisierte Anfälle
5.2.1.1. Grand mal
Der Anfall verläuft in verschiedenen Stadien:
1. Aura
(aura lateinisch = Lufthauch, im Sinne von „es liegt etwas in der Luft“, eine Vorahnung) Die Mehrzahl der Epileptiker hat keine Aura. Diese ist eigentlich sehr nützlich, da der Klient sich noch rechtzeitig in Sicherheit bringen kann. Die Aura gilt als ein fokaler Anfall, der sich dann sekundär generalisiert und mit dem 2. Stadium dann weitergeht.
Es können in der Aura auftreten:
- Sprachstörungen,
- Unbehagen,
- Gemütsänderungen,
- Missempfindungen,
- Halluzinationen,
- Bewusstseinsveränderungen wie De`ja- vu – Erlebnisse (französich „schon einmal gesehen“, Situationen kommen einem bekannt vor, ist aber eine Erinnerungsfälschung) und
- Entfremdungserlebnisse (alles – auch ich mir selber – kommt mir fremd und unwirklich vor).
Die Dauer der Aura ist sehr unterschiedlich – von Minuten über Stunden, seltener auch mal länger.
2. Tonisches Stadium

Der Klient wird bewusstlos, es kommt zu einem Streckkrampf der gesamten quergestreiften Muskulatur. Der Klient stößt eine Schrei aus. Dieser wird als Initialschrei bezeichnet (initial = Beginn). Der Schrei ist nicht bewusst, es wird lediglich bei der Verkrampfung aller quergestreiften Muskeln Luft herausgepresst durch die Stimmritze, was sich als Laut äußert. Der Klient stürzt zu Boden. Dauer insgesamt ca. einige Sekunden.
3. Klonisches Stadium
Es kommt zu rhythmischen Zuckungen der gesamten quergestreiften Muskulatur. Vor dem Mund kann es zur Schaumbildung kommen, da die Kaumuskeln auch krampfen und den Speichel im Mund sozusagen zu Schaum schlagen. Meist beißt sich der Klient auf die Zunge und es kann zu heftigen Blutungen kommen. Außerdem kann es zum Einnässen und Einkoten kommen. Das Stadium wirkt äußerst dramatisch auf den Beobachter, ist aber eigentlich nur gefährlich, wenn sich der Klient durch die starke Bewegung verletzt. Dauer in der Regel 2 bis 3 Minuten.
4. Terminalschlaf

Anschließend fällt der Klient in einen tiefen Schlaf (Terminator = der Beender), den Sie als Betreuer nicht unterbrechen sollten. Er kann wenige Minuten bis viele Stunden (sogar bis zu 12 Stunden) andauern. Manche Klienten schlafen nicht, sondern fallen für einige Zeit in einen Dämmerzustand (siehe Lexikon D). Sie sollten hierbei nicht alleine gelassen werden, da es zu Fehlhandlungen kommen kann und sie desorientiert sind.
Nach dem Schlaf haben die Klienten eine Amnesie (= Erinnerungslücke) für den Anfall. Für die Aura liegt nicht immer eine Amnesie vor. Manche – die nicht so häufig Anfälle haben – bekommen einen starken Muskelkater. Im EEG (siehe Diagnostik) kann man während des Anfalls typische Spitzen und Wellen sehen.
5.2.1.2. Petit mal
Diese Anfälle kommen vor allem im Kindes- und Jugendalter vor, können aber auch in jedem anderen Alter auftreten. Im Folgenden werden keine Stadien beschrieben, sondern es sind alles separate Anfallstypen. Die meisten Petit-mal-Anfälle gehen mit Bewusstlosigkeit einher, aber nicht alle.
5.2.1.2.1. Absencen
Es kommt plötzlich zu einer Bewußtseinspause bis zu 20 Sekunden, bei der der Klient mit offenen, leeren Augen vor sich hin starrt. Wenn die Augen sich nach oben richten, spricht man von „Hans-guck-in-die-Luft“-Blick.

Es kommt evt. zu Klonismen (kleinen Zuckungen) der Augen-und Gesichtsmuskulatur und evt. zum Verdrehen des Kopfes nach oben. Haben Klienten 50 und mehr Absencen pro Tag, wird in mancher Literatur von Pyknolepsie gesprochen.
Im EEG sieht man während der Absencen 3/s Spikes and Waves (Spitzen und Wellen), siehe auch Diagnostik.
Die Absencen kommen v.a. im Alter von 5 bis 15 Jahren vor.
5.2.1.2.2. BNS-Anfälle
= Blitz-Nick-Salaam-Anfälle
= West-Syndrom
= Propulsiv-Petit-mal
= maligne Säuglingsepilepsie
= infantile Spasmen
Die Kinder oder Säuglinge beugen blitzartig den Kopf vor und „klappen“ die Arme und Beine nach vorne. Arme- und Kopfvorbeugen erinnert an den islamischen Gruß „Salaam meileikum“ mit entsprechender Gestik. BNS-Anfälle kommen vor allem im 1.Lebensjahr vor. Sie weisen oft auf eine sehr schwere Hirnschädigung hin.
Dauer ca. 2-3 Sekunden.
5.2.1.2.3. Lennox- Anfälle
Die Klienten fallen blitzartig zu Boden. Das Bewusstsein kann dabei erhalten bleiben. Es betrifft v.a. Kinder zwischen dem 3. und 4. Lebensjahr. Es sind verschiedene Anfallsbilder möglich. Meistens sind es tonische Anfälle (Streckkrampf), aber auch atonische Anfälle („Zusammensacken“ des Körpers). Es treten sehr viele Anfälle am Tag und im Schlaf auf.
5.2.1.2.4. Myoklonien
Bei den Klienten zucken die Extremitäten serienmäßig nach hinten. Sind die Beine mit betroffen, stürzen sie hin. Falls sie etwas in den Händen haben – z.B. eine Kaffeetasse – wird es nach hinten weggeschleudert. Das Bewusstsein bleibt meistens erhalten. Es betrifft vor allem Menschen in der Pubertät.
5.2.1.2.5. Tonischer Anfall
Ist ein Streckkrampf der quergestreiften Muskulatur ohne rhythmischen Zuckungen. Das Bewusstsein kann erhalten bleiben. Der Klient verharrt in der verkrampften Körperhaltung. Evt. stürzt der Klient hin. Der Anfall ist meist sehr kurz (1 bis 30 Sekunden).
5.2.2. Fokale (partielle) Anfälle
5.2.2.1. Einfache fokale Anfälle
5.2.2.1.1. Einfache fokal motorische Anfälle
Zuckungen in den der motorischen Hirnrinde entsprechenden Muskeln.
5.2.2.1.2. Motorische Jackson-Anfälle
Beginn mit Zuckungen in einem bestimmten Gebiet – z.B. rechte Hand – , Fortschreiten des Krampfes bis zum Halbseitenkrampf.
5.2.2.1.3. Einfache fokal sensible Anfälle
Missempfindungen, Kribbeln in den der sensiblen Hirnrinde entsprechenden Hautarealen.
5.2.2.1.4. Sensible Jackson-Anfälle
Fortschreiten der sensiblen Erscheinungen bis zur Körperhälfte.
5.2.2.1.5. Sensorische Anfälle
Bereiche des Gehirns, die für die Sinnesorgane zuständig sind, weisen eine erhöhte elektrische Aktivität auf, z.B. Sehrinde, Hörzentrum, Geschmacks- oder Geruchszentrum. Dadurch sind Sinnentäuschungen in allen Sinnesbereichen möglich (Geräusche, Gerüche, Lichtblitze).
5.2.2.1.6. Adversivkrämpfe
Es kommt zu einer Blickwendung und Seitwärtsdrehung des Kopfes und evt. des gesamten Körpers.
5.2.2.2. Komplex-fokale Anfälle
= psychomotorische Anfälle (veraltete Bezeichnung, die aber auch heute noch verwendet wird).
Häufig haben die Klienten eine Aura. Sie fallen dann in einen Dämmerzustand. In diesem Dämmerzustand weisen die Klienten merkwürdige, sinnlose Verhaltensweisen auf, die eine Weile anhalten. Die Dauer kann von einigen wenigen Minuten bis 20 Minuten dauern. Der Dämmerzustand klingt dann allmählich aus und die Klienten sind danach wieder voll ansprechbar, haben aber eine Amnesie für diesen Dämmerzustand. Der Ort des Geschehens ist der Temporallappen (Schläfenlappen) des Gehirns.

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