Die Schneeschuhe – 1962

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Edmonton, Dezember 1962

Die Jagdausrüstung hatte Heinz – der junge große athletisch aussehende Mann mit den braunen Augen – aus Deutschland mitgenommen. Eine nagelneue Remington 700, ein Gewehr, was kurz vor seiner Ausreise auf den Markt kam. Der Schaft aus dunklem gewachsenen Holz. Ein Zielfernrohr hatte er selber daran befestigt. Dazu kam noch das Abschiedsgeschenk seines Vaters. Ein echtes Puma-Jagdnicker-Messer. Aus einem Stück Stahl geschmiedet, mit Hirschhornschalen und Messingbeschlägen. Daran hing Heinz besonders. Ein altes Familienerbstück, was seine Dienste nach all den vielen Jahren immer noch perfekt erfüllte.

Er brauchte nur noch die Schneeschuhe, um an den freien Wochenenden Bären, Elche und Schneehasen zu jagen. Sie waren ein Muss in der verschneiten Wildnis um die Uranmine Gunnar bei Uranium City im Norden von Kanada. Mit Skiern wäre er eingesunken und stecken geblieben. Da er alleine jagen wollte, wäre dies sein Tod gewesen.

Die nächste Stadt, in der man einkaufen konnte, war Edmonton. 700 km von Gunnar entfernt. Der erste Wolkenkratzer war noch nicht gebaut, aber die Stadt war durch Ölboom und Uranminen ringsherum im Wachsen. Vor allem die Downtown. Ein idealer Ort für Einwanderer.
In einem kleinen Pelz- und Lederladen, geführt von einer attraktiven Metis-Frau (eine Nachfahrin eines europäischen Pelzhändlers und einer Frau indianischer Abstammung) – hatte er Schneeschuhe bekommen. Das Jagen konnte beginnen….

Mit einem lauten verwegenen „Hello!“ trat er mit langen Schritten ins „Old country Inn“, nahe des Bahnhofes.

19 Uhr. In drei Stunden fuhr sein Zug…

Rauch hüllte ihn ein. Gerüche waberten herum und machten Hunger: Steaks, Hähnchen, warme Blutwurst. Sogar Wiener Schnitzel gab es hier.

Er steuerte einen etwas wackelig aussehenden Bugholzstuhl aus Zedernholz an einem leeren kleinen Tisch in der Ecke neben der Theke an. Seine dunkelgraue knautschige dick gefütterte Winterjacke mit der Riesenkapuze hängte er locker über seine Stuhllehne. Die Bomber-Fliegermütze aus Rotfuchsfell legte er leger auf den Tisch. Die Schneeschuhe vorsichtig auf seinen Schoß. „Einen Whisky mit Blaubeeren und Ahorn, bitte!“ rief er der vorbeieilenden Kellnerin mit dem tiefen Ausschnitt zu. Sie lächelte und nickte.
Er liebte den kanadischen Whisky-Likör mit Blaubeeren und Ahornsirup. So sehr, dass er sich lieber betrank als sich etwas zu essen zu bestellen. Entweder oder. Mehr konnte er sich im Moment nicht leisten.
Deshalb wollte er ja jagen. Aber nicht nur deshalb. Er brauchte den Adrenalinschub, um sich lebendig zu fühlen.

Er holte aus seiner Gesäßtasche eine krumpelige Chesterfieldschachtel. Er angelte sich eine Zigarette heraus. Genüßlich steckte er sie an und blies einen blauen Rauchkringel in den Raum. Dabei zwinkerte er verschmitzt der Kellnerin zu, deren Augen aufblitzten. Lässig schob er seine Zigarette in seinen linken Mundwinkel und kaute darauf herum. „So schön kann das Leben sein.“, dachte er und lehnte sich entspannt zurück. Sein Stuhl knarrte bedenklich.

20 Uhr. In zwei Stunden fuhr sein Zug…

Die alkoholgeschwängerte Wärme, die ständige Geräuschkulisse von Stimmen und Liedern aus der Musikbox machten ihn schläfrig. Wortfetzen in allen Sprachen, vor allem englische.
Die Zeit dehnte sich. Alles lief irgendwie langsamer ab, wie in Zeitlupe. Er besah sich mit schwer werdenden Augenlidern voller Stolz seine neuen Schneeschuhe. Genau solche, auf denen vor langer Zeit die ersten Jäger und Trapper Kanada entdeckten.
Selbst wenn der Waldboden um Gunnar knietief mit Schnee bedeckt war, würden seine neuen Schuhe kaum einsinken.
Sie sahen wie zwei riesengroße Tennisschäger mit abgebrochenen Griffen aus. Das Geflecht und die Riemen waren aus Elchleder. Heinz strich langsam – fast zärtlich – mit der rechten Hand darüber. Auf der Handinnenseite blieb ein glänzender Film zurück. Heinz führte seine Hand an seine leicht verschnupfte Nase. Es roch angenehm nach Tapir-Lederfett – ein aromatischer Hauch von Bienen- und Carnaubawachs und Kokosfett. Er war zufrieden. Das Elchleder war gut eingefettet.
Er wischte sich die Hand an seinem Hosenbein ab und kippte den Rest von dem Ahornsirup-Whisky hinunter. Wohliges Prickeln durchströmte seine Kehle. „Noch einen!“ rief er der Kellnerin zu.

21 Uhr. In einer Stunde fuhr sein Zug…

Die Riemen seiner Schneeschuhe schnallte er an seinen abgetragenen ledernen Hosengürtel an der linken Seite fest. Sicher war sicher… Schräg gegenüber am Tresen standen zwei große Grobiane, größer als er – und er war immerhin 1.90 m groß – und schauten hin und wieder zu ihm rüber. Ob sie etwas im Schilde führten?
Die Wochen in der Uranmine hatten ihn misstrauisch werden lassen. Es gab viele Schlägereien, Alkohol und Gezänk…. Viele zwielichtige Gestalten trafen hier aufeinander. Jeder hatte seine eigene schlimme Geschichte… Es war ein grausamer Job in den Schächten, der einen fertig machte. Der viele Dollars in kurzer Zeit brachte. Man musste nur aufpassen, dass man die Zeit überlebte…. Dann konnten seine anderen Träume wahr werden… Ja, er war ein Gauner mit einer rauen Schale, aber einem weichem Kern.

21 Uhr und 15 Minuten. In 45 Minuten fuhr sein Zug…

Elke Zagadzki, im Oktober 2022

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Der dicke Brief von Enrique (2011) – Teil 1

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„Ciudad Bolivar, Anfang 2011

Meine liebe Elke,
als ich vor 14 Tagen einen Anruf von der deutschen Botschaft in Caracas erhielt, fiel ich einfach aus allen Wolken.
Ich hatte nicht mehr in meinem Alter damit gerechnet. Ungefähr zehn Jahre lang nach dem Mauerfall hatte ich noch die leise Hoffnung, Dich mal wiederzusehen, überhaupt sich endlich kennen zu lernen.
Ich mußte dann endlich – da ich festen Glaubens war, daß Ihr meine Adresse gekannt habt – einfach annehmen, daß Du den negativen Einflüssen Deiner Familie (was mich betrifft) -zum Opfer gefallen bist. Gott sei Dank war das nicht so.

Was ich von Deiner Mutter unverantwortlich finde, daß sie noch nicht mal der erwachsenen Tochter die Anschrift Deines Vaters gegeben hat. Was können die Kinder dafür, wenn die Eltern und Großeltern sich nicht einigen können! Ich hatte auch schon genug Krach mit MEINEN Eltern, das dauerte glücklicherweise „nur“ fast vier Jahre. Deine Mutter wußte von Anfang an, wo ich mich aufgehalten habe:

Zuerst eineinhalb Jahre in Canada. Wo ich am Polarkreis in einer Uranmine – an freien Wochenenden auf Jagd nach Bären und Elchen (die Jagdausrüstung hatte ich aus Deutschland mitgenommen, nur die Schneeschuhe mußte ich mir in Edmonton noch besorgen) – mir das Geld für die Venezuela-Pläne verdient habe…..“

Ich ließ den Brief sinken. Es formten sich Bilder und bewegte Szenen in meinem Kopf…. Ja, so könnte es gewesen sein …. :

… Die Jagdausrüstung hatte Heinz – der junge große athletisch aussehende Mann mit den braunen Augen – aus Deutschland mitgenommen. Eine nagelneue Remington 700, ein Gewehr, was kurz vor seiner Ausreise auf den Markt kam. Der Schaft aus dunklem gewachsenen Holz…

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