*ANFANG* >*ENRIQUE UND DER KNITTERSCHE KREIS* >Enrique, der Jäger

2025. Der jederzeit offene Zugang zu meinem Arbeitszimmer gibt mir das Gefühl von Weite und Freiheit. Außerdem beschweren sich meine Katzen über verriegelte Durchgänge mit Miauen und Kratzen am Holzrahmen.
Heute schließe ich die Tür, damit mein Staubsaugerroboter Robert die Ecke dahinter erreichen kann. Mein Blick betrachtet die Wand und bleibt an Etwas hängen, was nicht meinem Einrichtungsstil entspricht, doch untrennbar mit einem Stück meiner Geschichte verknüpft ist:
Die Eckzähne eines Keilers aus dem Ober- und Unterkiefer auf einer runden Holzscheibe, verziert mit silbernem Eichenlaub.
Eine alte Trophäe von 1954 aus der Jugendzeit meines Erzeugers. Er ging regelmäßig im Kleve-Reichswald an der holländischen Grenze jagen.
Ich, vaterlos aufgewachsen, hatte ihn durch einen Suchdienst in Venezuela gefunden. Dort rief man ihn “Enrique“, da keiner den Namen Heinz aussprechen konnte.
Er, fast 80 Jahre alt, schickte mir im März 2012 aus seiner Wahlheimat die Keilerwaffen mit noch zwei Rehgehörnen – diese in der Gran Sabana geschossen – und alte Familienfotos.
Zu den Keilerwaffen gab es ein Foto mit dem toten Wildschwein. Ich fand das Bild bedrückend. Doch Enrique, Sohn eines Försters, hatte die Jagd von jeher mit Leidenschaft betrieben. Überdies diente das Erlegte stets der Ernährung. Gerade in der Kriegs- und Nachkriegszeit überlebensnotwendig. Das ließ mich milder urteilen.
Seine Abenteuer-Begeisterung spürte ich, als ich seine kleine Schrift auf der Rückseite der Aufnahme entdeckte:
Das ist der größte Keiler, den ich je geschossen habe.
Auf dem Wildacker mitten im Revier, auf dem Hochsitz. Es geht auf Mitternacht zu, fast Vollmond, naßkalt. Ich fange an zu frösteln.
Da tritt ein großer Schatten aus dem Gehölz. Ich reiße mein Glas hoch, ein Riesenkeiler! Entfernung rund 90 Meter. Ich werde etwas nervös. Der Keiler sichert erst und macht sich dann an die Süßkartoffeln ran.
Die Büchse im Anschlag, ein paar Zielübungen werden gemacht, bis das Fadenkreuz ganz ruhig auf das Blatt zeigt. Der Schuß geht ab.
Ein wildes Aufbäumen und der Keiler liegt im Feuer[1]! Ich warte noch einige Minuten bis es wieder still wird in der kalten Mondnacht.
Ich steige vom Hochsitz, aber von Kälte spüre ich jetzt nichts mehr.
Langsam gehe ich auf den erlegten Keiler zu. Ein prachtvoller Blattschuß[2]!
Immer, wenn ich die Trophäe anschaue, denke ich an diese Erzählung auf der Fotografie.
Und an meine jüngste Tochter, eine glühende Tierliebhaberin. Das einzige Fleisch, was sie isst, ist Wildfleisch. Ihr Motto: Wilde Tiere haben ein glückliches freies Leben und einen angstfreien schnellen Tod. Sofern der Jäger gut zielen kann und es keine Treibjagd ist.
Elke Zagadzki, im April 2025
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