1989 bis 1992 – Holländische Grenze, eine Wiedervereinigungsgeschichte

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Die Grenzöffnung? Für viele ein Triumph. Ich empfand sie als Flop.

Im November 1989 trat ich zum ersten Mal die Reise in den Westen an mit Pass und offiziellem Visum. Kaum war ich bei den vertrauten Verwandten in einer Kleinstadt in Hessen, fiel die Mauer. Das „besondere Abenteuer“ geriet damit über Nacht zur Massenware.

In der Folge rief Wichtigeres: kleine Kinder, Beruf, Alltag.

Im Sommer 1992 war ich endlich bereit für die Suche nach meinem Vater im Westen . Meine Mutter hatte ihn 1961 kurz vor der Grenzschließung verlassen, um bei ihren Eltern in Thüringen zu bleiben. Sie, die mich allein in der DDR großgezogen hatte, reagierte gekränkt angesichts dieses vermeintlichen Verrates an ihr. Sie händigte mir trotzdem die alte Adresse ihrer Ex-Schwiegereltern aus, die schon lange gestorben waren.

Mein Ziel war Grafwegen, ein Dorf mit kaum neunzig Einwohnern an der holländischen Grenze. Dort, im Försterhaus Nergena-Süd, der neuen Heimstatt  des Großvaters nach der Flucht aus Westpreußen, war mein Vater aufgewachsen.

Hinter der ostdeutschen Grenze wurden die Straßen glatter und breiter. Die Zapfsäulen der Tankstellen glänzten wie neu. In den Raststätten: Alles lockte, jeder Duft verführte, ein Luxus-Urlaub auf Asphalt. Nur das passende Zweitaktbenzingemisch für meinen klapprigen Wartburg gab es nicht.

„Gemisch? Nehmen wir nur noch für Rasenmäher.“

Der Tankwart grinste und bestaunte das rollende Fossil. Zum Glück stapelten sich fünf Kanister Zweitaktöl in seinem  Kofferraum. Und an jeder Tankstelle hatten mir bisher Menschen geholfen, das Westbenzin im richtigen Verhältnis damit zu mischen. Es klappte auch hier. Nachdem der Tankwart fertig war, sprach mich ein Mann im Cordjackett an:

„Wo wollen Sie denn hin?“

„Nach Grafwegen bei Kleve.“

„Grafwegen? Da gibt’s doch nur Kühe – und Holland gleich dahinter!“

Ich zuckte die Schultern.

„Familie.“

Er schüttelte den Kopf, als hätte ich eine Expedition nach Grönland angekündigt.

In den späten Abendstunden erreichte ich das telefonisch gebuchte Quartier in Grafwegen. Am nächsten Morgen nach einer vor Aufregung schlaflosen Nacht begann ich, die Höfe des Ortes abzuklappern. In der Hoffnung, in einem davon etwas über den Verbleib meines Vaters zu erfahren.  Für mich, die sonst lieber still im Hintergrund blieb, eine Mutprobe, wie Fallschirmspringen. Doch war es an der Zeit, endlich Antworten zu finden.

Bei allen Gesprächen, die ich nach und nach führte, sprach niemand über Mauerfall oder Wiedervereinigung. Mein DDR-Auto wurde ignoriert. Anscheinend waren am westlichen Ende von Westdeutschland die politischen Veränderungen nicht von  Bedeutung.

Anfangs erntete ich zurückhaltende Blicke. Dann gab ich meinen Mädchennamen an und präsentierte die Geburtsurkunde. Und plötzlich strahlten die Gesichter auf .

„Die Enkelin vom Oberförster Dall!“

Endlich öffneten sich die Türen, Geschichten sprudelten.

Eine ältere Dame, eine ehemalige Forstarbeiterin meines Opas, legte mir die Hand auf den Arm:

„Ihr Großvater: stets aufrecht, stets den Jagdhund an seiner Seite. Wenn er von seinen Jagderlebnissen erzählte, wusste er oft kein Ende – Manches klang so abenteuerlich, dass es kaum zu glauben war. Einmal hat er geschworen, einen Keiler mit bloßen Händen erlegt zu haben. Ihre Großmutter war berühmt für ihre Kochkunst. Und eine junge Frau aus Thüringen kam hin und wieder zur Sommerfrische. Das muss dann wohl Ihre Mutter gewesen sein.“

Eine andere erinnerte sich, wie das Paar kurz nach meiner Geburt 1958, als die Grenze noch offen war, einige Zeit in Grafwegen verbracht hatte:

„Eine elegante Städterin! Im Haar eine schicke Messingspange. Darauf war ich richtig neidisch. Ihr Vater Heinz schob Sie, Elke, im Kinderwagen durchs Dorf, als wären Sie die Prinzessin von Nergena-Süd.“ Sie lachte. „Viele Jahre später ist er mit einem riesigen Rohdiamanten aus Venezuela heimgekehrt. Bald aber wieder abgereist.“ Bedauern schwang in ihren Worten mit.

Doch wo war mein Vater jetzt? Was das betraf, konnte mir niemand weiterhelfen.  Es hieß, er sei womöglich für immer nach Südamerika ausgewandert. Seine Eltern waren lange tot, die alte Scheune und das Forsthaus vor Jahren bei einer Feuerwehrübung abgebrannt. Aber die Kastanienallee, die dorthin geführt hatte, gab es noch. Ich verharrte auf dem Wiesenfleck, wo das Haus seinen Platz gehabt hatte, und fragte mich: Ob ich hier gezeugt worden war – die Ostdeutsche in Westdeutschland?

Nur die uralte Lisbeth, die ich in der Kneipe Merlijn draußen beim Hühnerfüttern traf, erinnerte sich: In den 70ern sei der Förstersohn einmal kurz aufgetaucht – mit einer fremdländisch aussehenden, dunkelhäutigen Frau.  

Mehr gab es nicht zu erfahren. Ich fuhr enttäuscht nach Hause.

Was hatte ich erwartet? Dass die Wiedervereinigung zweier Staaten automatisch auch zu der von Töchtern und verschollenen Vätern führte? Immerhin wusste ich jetzt, dass er einmal einen gewaltigen, ungeschliffenen Edelstein besessen hatte. Vielleicht. Oder auch nicht.

Ich ließ die Nachforschungen ruhen. Sie schlummerten fünfzehn Jahre lang, bis ich einen Suchdienst einschaltete.

Die Wiedervereinigung, die Wende? Ein paar Tage in einem winzigen Dorf im äußersten Westen von Deutschland, wo mein Mädchenname mehr Grenzen überwand, als jeder Pass oder politische Entscheidungen es je vermocht hätten.

Vom Vater keine Spur – doch das Gefühl, endlich zu ahnen, woher ich komme.

Elke Zagadzki, im November 2025

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2011 – Der dicke Brief von Enrique, Teil 1